
Entgegen der Annahme, der Hersteller hafte für Fehler des Assistenzsystems, liegt die Verantwortung in Deutschland fast immer beim Fahrer, der rechtlich als „System-Manager“ gilt.
- Assistenzsysteme der Stufe 2 (wie Spurhalteassistenten) sind reine Helfer und entbinden Sie niemals von der ständigen Überwachungspflicht des Verkehrsgeschehens.
- Bei einem Unfall durch Systemversagen (z. B. Phantombremsung) wird oft eine geteilte Haftung angenommen, wobei der Fahrer den größeren Anteil trägt.
Recommandation: Dokumentieren Sie jeden Systemfehler und jeden Werkstattbesuch (insb. Kalibrierungen) akribisch, um im Schadensfall Ihre eigene Sorgfalt nachweisen zu können.
Sie fahren auf der Autobahn durch eine eng geführte Baustelle. Gelbe Linien überlagern die weißen, die Fahrbahn verengt sich, links ein LKW, rechts die Betonschutzwand. Sie vertrauen auf Ihren modernen Spurhalteassistenten, der Sie mittig in der Spur halten soll. Plötzlich ein Ruck am Lenkrad – das Fahrzeug zieht unerwartet nach links, direkt auf den LKW zu. Sie können gerade noch gegenlenken und einen Unfall verhindern. Dieses Szenario ist für viele Fahrer moderner Fahrzeuge mit Assistenzsystemen der Stufe 2 keine Fiktion, sondern eine beängstigende Realität. Die Verheißung des teilautonomen Fahrens suggeriert Entlastung und Sicherheit, doch die juristische Wirklichkeit ist eine andere.
Die landläufige Meinung ist oft: „Das Auto hat den Fehler gemacht, also haftet der Hersteller.“ Doch diese Annahme ist ein gefährlicher Trugschluss. Nach deutschem Verkehrsrecht bleiben Sie als Fahrer in der vollen Verantwortung. Sie sind nicht Passagier, sondern aktiver „System-Manager“, der die Grenzen der Technik kennen, überwachen und jederzeit korrigieren muss. Die entscheidende Frage vor Gericht ist daher nicht, ob Sie haften, sondern unter welchen Umständen Sie Ihre Haftung reduzieren oder nachweisen können, Ihrer gesetzlichen Überwachungspflicht vollumfänglich nachgekommen zu sein. Ein technisches Versagen ist keine pauschale Entschuldigung.
Dieser Artikel beleuchtet als Ihr juristischer Ratgeber die kritischen Grauzonen der Haftung. Wir analysieren, warum Systeme versagen, wie Gerichte in Deutschland urteilen und welche konkreten Schritte Sie unternehmen müssen, um sich im Schadensfall bestmöglich zu positionieren. Es geht darum, die Kluft zwischen technischer Möglichkeit und rechtlicher Realität zu verstehen, bevor es zum Ernstfall kommt.
Um diese komplexen Zusammenhänge zu verstehen, werden wir die typischen Fallstricke und technischen Hintergründe Schritt für Schritt beleuchten. Die folgende Übersicht führt Sie durch die entscheidenden Aspekte, von den Grenzen der Sensoren bis hin zu den Konsequenzen einer fehlerhaften Wartung.
Inhaltsverzeichnis: Haftungsrisiken bei Assistenzsystemen im Detail
- Warum versagt der Notbremsassistent bei Nieselregen und tiefstehender Sonne?
- Die Gefahr der „Phantombremsung“: Wie reagieren Sie richtig, wenn das Auto grundlos den Anker wirft?
- Windschutzscheibe tauschen: Warum die Kalibrierung der Kameras die Rechnung verdoppelt?
- Hände weg vom Lenkrad: Wie viele Sekunden toleriert der Gesetzgeber wirklich?
- Gibt es Rabatte für Autos mit vielen Assistenzsystemen oder steigen die Reparaturkosten die Prämie?
- Radar, Lidar, Kamera: Welcher Sensor sieht was und warum müssen sie „zusammenspielen“?
- Wann ist die Physik stärker als Ihr elektronisches Stabilitätsprogramm?
- Warum funktioniert Ihr Notbremsassistent nach dem Scheibentausch nicht mehr richtig?
Warum versagt der Notbremsassistent bei Nieselregen und tiefstehender Sonne?
Ein Notbremsassistent (AEB) ist darauf ausgelegt, Leben zu retten. Doch seine „Augen“ – Kameras und Radarsensoren – sind anfällig für dieselben Störungen, die auch das menschliche Sehvermögen beeinträchtigen. Nieselregen oder Sprühnebel erzeugen auf der Kameralinse einen feinen Film, der das Licht streut und Kontraste verwischt. Tiefstehende Sonne kann die Kamera blenden und eine korrekte Objekterkennung unmöglich machen. Diese Phänomene sind keine technischen Defekte, sondern physikalische Systemgrenzen. Rechtlich gesehen wird von Ihnen als Fahrer erwartet, diese Grenzen zu kennen und Ihre Fahrweise entsprechend anzupassen. Die Tatsache, dass das Anpassen der Geschwindigkeit bei schlechten Wetterverhältnissen zu den Hauptunfallursachen zählt, unterstreicht die Verantwortung des Fahrers, sich nicht blind auf die Technik zu verlassen.
Wenn es trotz angepasster Fahrweise zu einem Unfall kommt, weil das System versagt hat, beginnt die komplexe juristische Auseinandersetzung. Sie müssen glaubhaft machen können, dass nicht Ihre Unachtsamkeit, sondern das unvorhersehbare Verhalten des Systems ursächlich war. Eine lückenlose Dokumentation ist hierbei Ihr wichtigstes Instrument. Halten Sie fest, welche Witterungsbedingungen herrschten, welche Warnmeldungen im Display erschienen und wie der Zustand der Sensoren (z. B. Verschmutzung) war. Ohne Beweise wird ein Gericht im Zweifel von einem Fahrfehler Ihrerseits ausgehen.
Ihr Maßnahmenplan zur Beweissicherung nach einem Systemfehler
- Unfallstelle dokumentieren: Fertigen Sie umgehend detaillierte Fotos und Videos an. Wichtig sind die Endposition der Fahrzeuge, Bremsspuren, Beschädigungen und insbesondere die Anzeigen und Warnmeldungen auf Ihrem Fahrzeugdisplay.
- Zeugenaussagen sichern: Bitten Sie Augenzeugen, ihre Beobachtungen schriftlich festzuhalten und Ihnen ihre Kontaktdaten zu geben. Eine unabhängige Aussage kann entscheidend sein.
- Event Data Recorder (EDR) anfordern: Beantragen Sie über einen Anwalt oder Sachverständigen die Auslesung des EDR. Diese „Blackbox“ speichert die letzten Sekunden vor dem Aufprall und kann Systemeingriffe belegen.
- Werkstatt-Protokolle aufbewahren: Heben Sie alle Belege über Wartungen und insbesondere über die Kalibrierung von Kameras und Sensoren sorgfältig auf. Dies beweist die ordnungsgemäße Instandhaltung.
- Systemstatus protokollieren: Notieren Sie die genaue Software-Version Ihres Fahrzeugs (falls einsehbar) und eventuell im Fehlerspeicher hinterlegte Codes. Dies hilft, ein systemweites Problem nachzuweisen.
Die Gefahr der „Phantombremsung“: Wie reagieren Sie richtig, wenn das Auto grundlos den Anker wirft?
Eine der gefährlichsten Fehlfunktionen moderner Assistenzsysteme ist die sogenannte Phantombremsung. Das Fahrzeug leitet ohne ersichtlichen Grund eine Vollbremsung ein, weil Sensoren harmlose Objekte wie Brückenschilder, Gullideckel oder Schatten fälschlicherweise als Hindernis interpretieren. Für den nachfolgenden Verkehr entsteht eine extreme Gefahrensituation. Rechtlich stehen Sie hier vor einem Dilemma: Bei einem Auffahrunfall gilt in Deutschland der Anscheinsbeweis, der zunächst dem Auffahrenden die Schuld zuweist. Sie müssen diesen Anscheinsbeweis aktiv entkräften, indem Sie nachweisen, dass die grundlose Bremsung für den Hintermann ein „unabwendbares Ereignis“ darstellte.
Ein wegweisendes Urteil des Oberlandesgerichts Frankfurt zeigt die Komplexität. In einem konkreten Fall wurde die Haftung nach einer Phantombremsung geteilt. Das Gericht sprach der Klägerin (die Fahrerin des bremsenden Autos) nur zwei Drittel ihres Schadensersatzes zu, weil sie als Fahrerin die Betriebsgefahr ihres technologisch komplexen Fahrzeugs mittragen muss. Das Urteil (Az. 23 U 120/20) macht deutlich: Selbst wenn das System fehlerhaft agiert, entkommen Sie der Mithaftung nur selten. Wie die Rechtsanwaltskanzlei Kotz in einem Fachbeitrag erläutert, gilt Folgendes:
Technisches Versagen gilt nicht als Begründung für die Berufung auf eine sogenannte Unabwendbarkeit eines Unfalls.
– Rechtsanwaltskanzlei Kotz, Unfall wegen fehlerhaften PKW-Assistenzsystems

Ihre korrekte Reaktion in dem Moment ist, die Situation schnell zu erfassen, das Bremspedal zu übersteuern (falls möglich) oder durch einen kurzen, kräftigen Gasstoß den Bremsvorgang abzubrechen und gleichzeitig den nachfolgenden Verkehr im Rückspiegel zu beobachten. Nach dem Vorfall ist eine sofortige Meldung an den Hersteller und die Werkstatt zur Überprüfung des Systems unerlässlich, um den Vorfall aktenkundig zu machen.
Windschutzscheibe tauschen: Warum die Kalibrierung der Kameras die Rechnung verdoppelt?
Ein Steinschlag in der Windschutzscheibe ist ärgerlich, doch bei modernen Fahrzeugen wird die Reparatur schnell zu einer teuren Angelegenheit. Der Grund: Hinter der Scheibe, meist im Bereich des Innenspiegels, sitzt die zentrale Kamera für eine Vielzahl von Assistenzsystemen – vom Spurhalteassistenten über die Verkehrszeichenerkennung bis zum Notbremsassistenten. Wird die Scheibe getauscht, ändert sich die Position dieser Kamera um Millimeterbruchteile. Für das System bedeutet das, dass seine gesamte „Sicht“ auf die Welt verfälscht ist. Eine Neukalibrierung ist daher zwingend erforderlich, um die Funktionssicherheit zu gewährleisten. Diese Kalibrierung erfordert spezielle Messtafeln und Diagnosegeräte, was die Kosten schnell um mehrere hundert Euro in die Höhe treibt.
Sparen Sie an dieser Stelle, sparen Sie an Ihrer Sicherheit und setzen sich einem enormen Haftungsrisiko aus. Eine Werkstatt, die den Tausch ohne die vorschriftsgemäße Kalibrierung durchführt, handelt grob fahrlässig. Kommt es später zu einem Unfall, weil der Assistent versagt, haften sowohl die Werkstatt als auch Sie als Halter. Sie können sich nicht darauf berufen, von der Notwendigkeit nichts gewusst zu haben. Es gehört zu Ihrer Sorgfaltspflicht als Fahrzeughalter, die Instandhaltung nach Herstellervorgaben sicherzustellen. Die Beweiskraft einer Kalibrierung durch eine Vertragswerkstatt ist im Schadensfall in der Regel höher.
Der folgende Vergleich zeigt, wo die Unterschiede zwischen den Anbietern liegen und warum die Investition in eine fachgerechte Kalibrierung unumgänglich ist, wie auch der TÜV NORD in seinen Leitfäden betont.
| Kriterium | Vertragswerkstatt | Freie Anbieter (z.B. Carglass) |
|---|---|---|
| Kosten Kalibrierung | 150-400€ | 100-250€ |
| Herstellergarantie | Bleibt erhalten | Kann gefährdet sein |
| Beweiskraft im Schadensfall | Sehr hoch | Mittel bis hoch |
| Spezielle Kalibrierungstafeln | Immer vorhanden | Meist vorhanden |
Hände weg vom Lenkrad: Wie viele Sekunden toleriert der Gesetzgeber wirklich?
Die Verlockung ist groß: Auf einer monotonen Autobahnfahrt übernimmt der „Travel Assist“ und man möchte die Hände kurz vom Lenkrad nehmen. Doch wie lange ist das erlaubt? Die ernüchternde juristische Antwort lautet: Gar nicht. Der Gesetzgeber definiert keine konkrete Sekundenzahl. Er fordert stattdessen die jederzeitige Fahrzeugbeherrschung durch den Fahrer. Die Warnungen des Autos, die Hände wieder ans Lenkrad zu nehmen, sind keine freundlichen Empfehlungen, sondern technische Umsetzungen dieser rechtlichen Vorgabe. Ignorieren Sie diese, handeln Sie grob fahrlässig. Gängige Assistenzsysteme in modernen PKW erreichen lediglich die Stufe zwei von fünf auf dem Weg zum autonomen Fahren. Auf diesem Niveau müssen Sie als Fahrer jederzeit eingriffsbereit sein und die volle Kontrolle behalten.
Die Verantwortung liegt voll bei Ihnen, das System permanent zu überwachen. Die Zeitspanne, nach der das System warnt, ist eine reine Herstellereinstellung und keine rechtlich abgesicherte Frist. Manche Systeme schalten sich nach der Warnung sogar einfach ab, was zu extrem gefährlichen Situationen führen kann. Der ADAC beschreibt ein solches Verhalten am Beispiel des Hyundai Ioniq 5: Wenn der Fahrer länger als 15 Sekunden nicht reagiert, deaktiviert sich der Spurhalter, während der Abstandsregeltempomat (ACC) das Fahrzeug ungebremst weiterfahren lässt. In einer leichten Kurve würde das Auto also einfach geradeaus weiterfahren. Wer in diesem Moment abgelenkt ist, provoziert einen schweren Unfall und wird dafür vollumfänglich haften.
Der Mythos der „erlaubten“ freihändigen Fahrt ist einer der gefährlichsten im Kontext des teilautonomen Fahrens. Ihre Hände gehören ans Lenkrad, und Ihre Aufmerksamkeit auf die Straße – das System ist Ihr Assistent, nicht Ihr Chauffeur.
Gibt es Rabatte für Autos mit vielen Assistenzsystemen oder steigen die Reparaturkosten die Prämie?
Die Frage nach der Versicherungsprämie für Fahrzeuge mit umfangreicher Assistenzausstattung ist ein zweischneidiges Schwert. Auf der einen Seite erkennen Versicherer an, dass diese Systeme Unfälle verhindern können. Studien, wie die der BG Verkehr, belegen eine Senkung der Unfallhäufigkeit um bis zu ein Drittel bei mit FAS ausgestatteten Fahrzeugen. Dies betrifft vor allem Parkrempler, Auffahrunfälle bei niedriger Geschwindigkeit oder Unfälle durch Übermüdung. Einige Versicherer gewähren daher tatsächlich gezielte Rabatte für bestimmte Sicherheitspakete, insbesondere für Notbremsassistenten.
Auf der anderen Seite stehen die immens gestiegenen Reparaturkosten. Ein kleiner Parkrempler, der früher nur eine neue Lackierung des Stoßfängers erforderte, kann heute einen Schaden von mehreren tausend Euro bedeuten. Der Grund: Im Stoßfänger sind Radar- und Ultraschallsensoren sowie oft auch Kameras verbaut. Diese hochempfindlichen Bauteile müssen nicht nur ersetzt, sondern anschließend auch aufwendig kalibriert werden. Diese Kostenexplosion fließt direkt in die Typklassen-Einstufung der Fahrzeuge ein. Ein Auto mit teuren potenziellen Reparaturschäden wird in eine höhere Typklasse eingestuft, was die Kaskoversicherung verteuert.

Im Ergebnis heben sich die Effekte oft gegenseitig auf. Der Rabatt für die Sicherheitsausstattung wird durch die höhere Typklasse aufgrund der Reparaturkosten „aufgefressen“. Langfristig ist zu erwarten, dass die Prämien für technologisch komplexe Fahrzeuge eher steigen, da die durchschnittliche Schadenshöhe zunimmt, auch wenn die Unfallfrequenz sinkt. Für Sie als Halter bedeutet das: Die Prämie spiegelt das Spannungsfeld zwischen Unfallvermeidung und Kostenrisiko wider.
Radar, Lidar, Kamera: Welcher Sensor sieht was und warum müssen sie „zusammenspielen“?
Moderne Fahrzeuge verlassen sich nicht auf einen einzigen Sensor, sondern auf ein Team von Spezialisten, die durch „Sensorfusion“ ein Gesamtbild der Umgebung erstellen. Jeder Sensortyp hat spezifische Stärken und Schwächen:
- Kamera: Das „Auge“ des Autos. Sie ist exzellent darin, Farben und Kontraste zu erkennen, also Fahrbahnmarkierungen, Verkehrszeichen und die Lichter anderer Fahrzeuge zu lesen. Ihre Schwäche: Sie ist anfällig für schlechtes Wetter (Regen, Nebel, Schnee) und blendendes Licht (tiefstehende Sonne, entgegenkommende Scheinwerfer).
- Radar: Der „Entfernungsmesser“. Radarwellen durchdringen Regen und Nebel problemlos und messen sehr präzise die Geschwindigkeit und Entfernung zu anderen Objekten, insbesondere zu metallischen wie anderen Autos. Moderne Radarsysteme können vorausfahrende Fahrzeuge in einer Entfernung von bis zu 250 Metern erkennen. Ihre Schwäche: Sie können die Art eines Objekts schlecht klassifizieren (ein stehendes Auto oder ein Gullideckel?) und erkennen keine Farben oder Markierungen.
- Lidar (seltener): Der „3D-Scanner“. Lidar sendet Laserimpulse aus und erstellt eine hochpräzise, dreidimensionale Punktwolke der Umgebung. Es ist genauer als Radar in der Objekterkennung, aber teurer und ebenfalls anfällig für extreme Wetterbedingungen.
Das Zusammenspiel, die Sensorfusion, ist der Schlüssel. Wenn die Kamera eine rote Ampel sieht und das Radar gleichzeitig ein stehendes Auto davor meldet, kann der Notbremsassistent sicher eingreifen. Fällt ein Sensor aus oder liefert widersprüchliche Daten, kommt das System an seine Grenzen. Ein ADAC-Test mit einem Renault Mégane E-Tech in einer Baustelle illustriert dies perfekt: Konfrontiert mit sich überlagernden weißen und gelben Linien, orientierte sich das System stur an den weißen und steuerte Richtung Fahrbahnrand. Ein Ingenieur musste eingreifen, um einen Unfall zu verhindern. Dies zeigt: Selbst das beste Team aus Sensoren kann durch eine unklare, für Menschen aber verständliche Situation, überfordert sein. An diesem Punkt ist der menschliche „System-Manager“ als letzte Instanz gefragt.
Wann ist die Physik stärker als Ihr elektronisches Stabilitätsprogramm?
Das Elektronische Stabilitätsprogramm (ESP) ist einer der wichtigsten Lebensretter im modernen Automobil. Es kann durch gezieltes Abbremsen einzelner Räder ein ausbrechendes Fahrzeug stabilisieren. Doch selbst das beste ESP kann die Gesetze der Physik nicht außer Kraft setzen. Die Haftung zwischen Reifen und Fahrbahn ist eine endliche Größe. Wird diese Grenze überschritten, verliert das Fahrzeug den Kontakt zur Straße, und das ESP wird wirkungslos. Als Fahrer müssen Sie die Situationen antizipieren, in denen diese physikalischen Grenzen schnell erreicht sind.
Die mit Abstand häufigste Ursache für das Überschreiten dieser Grenzen ist überhöhte oder nicht angepasste Geschwindigkeit. Die aktuelle Unfallstatistik ist hier unmissverständlich: Fast 30 Prozent der Todesfälle im Straßenverkehr sind auf zu schnelles Fahren zurückzuführen. Ein ESP kann ein bei 80 km/h in der Kurve ins Schleudern geratenes Auto vielleicht noch abfangen – bei 100 km/h auf derselben nassen Straße wird es scheitern. Die Elektronik gibt Ihnen einen größeren Puffer, aber sie erweitert nicht die physikalischen Gesetze.
Besondere Vorsicht ist in folgenden Grenzsituationen geboten, in denen die Haftung abrupt abnehmen kann:
- Aquaplaning: Bei starkem Regen kann ein Wasserkeil den Kontakt der Reifen zur Straße vollständig unterbrechen. Das Auto schwimmt auf und ist nicht mehr lenk- oder bremsbar.
- Blitzeis: Plötzliche Eisglätte, oft auf Brücken oder in schattigen Waldstücken, reduziert den Reibungskoeffizienten auf nahezu null.
- Lose Untergründe: Schotter, nasses Laub oder Kopfsteinpflaster bieten deutlich weniger Grip als trockener Asphalt.
- Falsche Bereifung: Abgefahrene oder für die Witterung ungeeignete Reifen (z. B. Sommerreifen im Winter) reduzieren die Haftungsgrenze dramatisch.
- Fahrzeugmodifikationen: Eine Tieferlegung oder extrem breite Reifen können das vom Hersteller abgestimmte Fahrverhalten negativ beeinflussen und das ESP an seine Grenzen bringen.
In all diesen Fällen liegt die Verantwortung zur Antizipation und zur Anpassung der Geschwindigkeit allein bei Ihnen. Ein Unfall aufgrund von Aquaplaning ist fast immer auf nicht angepasste Geschwindigkeit zurückzuführen – ein Argument, das vor Gericht kaum zu entkräften ist.
Das Wichtigste in Kürze
- Sie sind als Fahrer rechtlich der „System-Manager“ und tragen die Letztverantwortung für das Fahrzeug, auch wenn Assistenten aktiv sind.
- Eine lückenlose Dokumentation von Systemfehlern, Warnmeldungen und Werkstattbesuchen (insb. Kalibrierungen) ist Ihre stärkste Waffe im Schadensfall.
- Systemgrenzen (z. B. durch Wetter) sind kein technischer Mangel, sondern eine Eigenschaft, die Sie als Fahrer kennen und durch angepasste Fahrweise kompensieren müssen.
Warum funktioniert Ihr Notbremsassistent nach dem Scheibentausch nicht mehr richtig?
Die Antwort auf diese Frage fasst die Kernproblematik der Haftung bei modernen Fahrzeugen zusammen: Die komplexe Technik ist nur so gut wie ihre Wartung und Kalibrierung. Wie bereits erläutert, führt ein Tausch der Windschutzscheibe ohne anschließende Neukalibrierung der Kamera zu einer Dejustierung des gesamten Systems. Der Notbremsassistent „schaut“ quasi schief auf die Straße. Dies führt zu gefährlichen Fehlfunktionen. Die DEURAG Versicherung fasst die rechtliche Komplexität treffend zusammen: „Führt ein nicht oder nur fehlerhaft funktionierendes Fahrassistenzsystem zu einem Unfall, stellt sich die Frage nach der Haftung. Denn ist ein Defekt oder eine Fehlfunktion ursächlich, könnte der Fahrzeughersteller in Haftung genommen werden. In der Praxis ist ein solches Vorkommnis juristisch komplex.“
Der Versuch, den Hersteller in die Produkthaftung zu nehmen, scheitert in solchen Fällen jedoch regelmäßig. Der Hersteller kann nachweisen, dass das System bei korrekter Wartung funktioniert hätte. Die Verantwortung wird somit auf die Glieder der Kette zurückfallen, die den Fehler gemacht haben: die Werkstatt, die nicht kalibriert hat, und Sie als Halter, der die fachgerechte Reparatur nicht sichergestellt oder beauftragt hat. Sie befinden sich in einer geteilten Verantwortung, die im Schadensfall zu einer Mithaftungsquote führen wird. Die folgende Übersicht verdeutlicht die direkten Gefahren, die von einer fehlenden Kalibrierung ausgehen.
| System | Mögliche Fehlfunktion | Gefährdungspotenzial |
|---|---|---|
| Notbremsassistent | Phantombremsungen oder Ausfall | Sehr hoch |
| Spurhalteassistent | Versagen in Kurven | Hoch |
| Verkehrszeichenerkennung | Falsche Geschwindigkeitsanzeige | Mittel |
| Abstandsregeltempomat | Falsche Abstandsmessung | Hoch |
Letztendlich zeigt sich: Die fortschrittliche Technik in Ihrem Auto ist kein Garant für Sicherheit, sondern ein Werkzeug, das korrekte Handhabung und Wartung erfordert. Ihre Rolle als „System-Manager“ bedeutet, diese Verantwortung zu verstehen und zu übernehmen. Das Wissen um die Grenzen der Technik, die penible Dokumentation und die Beauftragung fachgerechter Reparaturen sind Ihre wichtigsten Instrumente, um sicher unterwegs zu sein und Ihre Position im Falle eines Unfalls zu stärken.
Sollten Sie in einen Unfall verwickelt sein, bei dem ein Assistenzsystem eine Rolle gespielt haben könnte, ist die Einholung von professionellem Rechtsrat unerlässlich. Nur ein Fachanwalt für Verkehrsrecht kann die komplexen technischen und juristischen Zusammenhänge bewerten und Ihre Interessen wirksam vertreten.